Orkus, 10/2000

Vertonte Alpträume

"Unidentified Light" war eine ausgeklügelte und komplizierte Arbeit aber trotzdem noch mit etwas Trendigem verbunden während Still Air nur aus sich selbst heraus lebt und auf nichts etwas gibt, außer auf seine eigene Essenz", erläutert Angelo Bergamini seine Sichtweise auf das jüngste Album seiner Band Kirlian Camera. Er betrachtet die Musik dieser CD als einen unverfälschten Report aus dem Leben der Bandmitglieder und findet es deshalb befremdlich, dass einige der ersten Hörer der neuen Stücke sie als die dunkelste und beunruhigendste Veröffentlichung bisher bezeichnen, in der etwas Schreckliches verborgen zu sein scheint.

Ich halte ihm entgegen, dass zumindest der erste Teil von Stil Air recht melodisch und harmonisch wirkt. Signore Bergamini verleiht aber der Negativität der Stücke Nachdruck: "Ich möchte kein Monument für die Paranoia bauen, nei n, das ist nicht mein Ziel. Aber ich kann sagen, dass es eine andere Realität gibt hinter der Grenze unserer traurigen und glücklichen Tage. Es ist kein speziell elitärer Ort für kultivierte Leute und Heilige, aber eine groteske Welt, wo Kraft niemals genug ist und wo die schlimmsten Dinge passieren können, weil niemand ringsumher etwas davon weiß". Eingespielt wurde Still Air von ihm, Emilia und Elena, die voriges Jahr zur Band stieß und seitdem eine enge Freundschaft zu den anderen beiden entstehen ließ. Angelo lobt die neue Sängerin in höchsten Tönen, bescheinigt ihr ungewöhnliches Talent, ein inniges kraftvol les Empfinden und bezeichnet sie als das dunkelste Element im derzeitigen Line-Up Dieses wird ergänzt durch den schweizerischen Soundingenieur Yvan Battaglia und Andrea Savelli welcher über Bass, Gitarre und Keyboards regiert. Künstlerische Unterstützung bekamen Kirlian Camera bei ihrer Arbeit an Still Air außerdem von Patrick Leagas (Sixth Comm/Ex-Death In June) sowie von Nancy Appiah und Gianluca Becuzzi (Limbo/Pankow). Auffallend an dem Album ist der Titel Black Harbour/Helma Nah` Shamrr. Hier hat Angelo eine Art neue Sprache geschaffen, nachdem er Tonnen von Texten fur dieses Lied geschrieben hatte und einsehen musste, dass er auf dem konventionellen Weg nicht weiterkam. Also vermischte der Künstler verlorene und gegenwärtig genutzte Worte verschiedener Sprachen und steckte das Resultat in den Song. Auch eine Bedeutung sei darin verborgen, aber unwichtig.

Wer sich mit der mittlerweile zwanzigjährigen Bandgeschichte Kirlian Cameras ein wenig auseinandersetzt, landet irgendwann bei der Feststellung, dass Angelo Bergamini ein Workaholic sein muss, hat er doch neben seiner eigentlichen Band bereits in vielen Nebenprojektenmitgewirkt, Singles und EPs veröffentlicht und auch andere Bands produziert. AIIerdings weist Angelo meine Behauptung zurück, benennt lediglich acht vollwertlge Kirlian Camera-Alben. Gleichzeitig erfahre ich jedoch, dass er sich derzeit gemeinsam mit anderen Musikern zusätzlich den beiden Projekten Uranium USSR 1972 und Stalingrad widmet.

Definitiv sind Kirlian Camera umstritten, was ihre politische Aussage angeht. Und sicher bin ich nicht der einzige, der die Musik dieser Band mag, aber sich jedoch davon abgestoßen fühlt, dass Angelo Bergamini auf früheren Alben Samples mit faschistischem Inhalt verwendete, ohne diese kritisch zu bewerten. Deshalb wollte ich von dem Künstler endlich konkret wissen, welche Gründe er hatte, den Faschistenführer Codreanu und seine Legion zu ehren. Angelos Antwort: " Kann sein, dass ich gesagt habe, dass ich das Thema interessant fand. Ich denke, jeder sollte bestimmte Themen besser kennenlernen, um zu verstehen, was in der Vergangenheit passiert ist und was die Quellen der neuen Welt sind. Ich denke, die Leute sollten mehr über alles informiert sein, aber das ist wohl eine läppische Illusion, solange versucht wird, alle Dinge mit einer Art Dogma zu versehen. Es gibt nicht nur eine Art Faschismus, das ist, als würde man sagen, Che Guevara und Pol Pot sind dasselbe, weil sie rot sind... Ich kann eine ganzes Album mit den Reden von Codreaunu, Mussolini, Hitler und Hirohito machen, oder, wenn das jemand bevorzugt, mit Che Guevara, Lenin und Angela Davis, und niemand sollte die Nerven haben, mich deswegen zu belästigen, klar?" Zum Abschluß stellt er bekräftigend fest: "Ich mache keine Musik, um irgendein politisches Credo zu verbreiten, sondern ich bin einfach von der Musik besessen, weil sie fähig ist, tief in meinem Inneren und in meinen vielfarbigen Alptäumen zu graben, und ich will nicht, dass irgendjemand versucht, mir eine Grenze zu setzen. Ich akzeptiere keine Einschränkung, außer dem wahren Sinn für Verantwortung. Aber ich schätze, dass nur wenige Leute verstehen, was ich meine. Egal, Worte sind dafür zu armselig."

  • Axel Schön