Entry Magazine, late 1994

Die Musik, die KIRLIAN CAMERA jetzt nun schon seit Jahren veröffentlichen, in den Himmel zu loben, hieße Sälen nach Athen zu tragen und ist im übrigen auch nicht die Aufgabe dieses Artikels. Wohl jedem "Schwarzen" wird das Herz höher schlagen, wenn er Alben wie "Todesengel" oder "Das Schwarze Denkmal" hört. Und wegen des enormen Popularitätsschubes, den KIRLIAN CAMERA durch Wiederveröffentlichung des DISCORDIA-Labels in der letzten Zeit erfuhren, ergriffen wir die Gelegenheit, ein Interview mit Angelo Bergamini himself zu führen.
P.S.: Da das Interview bereits im März geführt wurde, kann es sein, daß einige Textinhalte - besonders ein Bezug auf das neue Album - bei Veröffentlichung dieser Ausgabe bereits bekannt sind. Wir hoffen trotzdem, dem Leser einige interessante Neuigkeiten zu bieten. Los geht’s:


Entry: Seit wann bist Du musikalisch aktiv, und seit wann gibt es KIRLIAN CAMERA?
Angelo Bergamini: "KIRLIAN CAMERA existiert seit 1980 und veröffentlicht Platten seit 1981, aber ich gebe eigentlich schon seit 1974 Konzerte, mit anderen Bands."

E.: Wann kommt endlich das neue Album Es heißt, daß es eine neue Version von :wumpscut: "Dying Culture" enthalten wird. Wie kam es zu der Zusammenarbeit von KIRLIAN CAMERA und RUDY RATZINGER?
A.B.: "‘Solaris - The Last Corridor’ wird in der ersten Aprilwoche veröffentlicht werden, unmittelbar vor Beginn unserer Tournee - übrigens mit einigen Konzerten in Deutschland. Ja, es stimmt, daß ‘Solaris’ eine neue Version von ‘Dying Culture’ enthält. Der Song heißt bei uns ‘Heaven’s Corridor/Dying Culture’. Wir baten Rudy, uns eine andere Basisversion dieses Songs zu schicken, ohne Gesang. Wir fügten dem ganzen andere Gesangslinien und orchestrale Passagen zu. Wir lernten :wumpscut: vor einem wirklich dramatischem Konzert von KIRLIAN CAMERA und T.A.C. in Leofels kennen, wo Rudy wirklich sehr nett war. Aber das ist nicht der Grund für das Ganze. Der eigentliche Grund für unsere Zusammenarbeit ist die brillante Arbeit, die Rudy abliefert."

E.: Ihr verfügt über eine sehr große stilistische Bandbreite, von extrem langsam-depressiven ("Vienna") über quasi-folige ("Fields of Sunset") bishin zu Dancefloor-Stücken ("Eclipse II"). Woher bezieht Ihr Eure Ideen? Wer hat Euch beeinflußt?
A.B.: "Du kannst Dir vorstellen, daß unsere musikalischen Wurzeln sehr weit gefächert sind! Ich kann Dir einige Beispiele geben: ich mag Kraftwerk, Pink Floyd, Suicide, Swans, Sparks, bretonisch-keltische Musik, Ennio Morricone, Brahms, Berg und Ligeti; Emilia steht auf Folk, Joy Division, Bob Marley, Laurie Anderson, Laibach, Death in June und Klaus Nomi; Nancy mag alles! Außerdem lieben wird das Kino: wunderbar! Unsere wahre Inspiration kommt von Filmen: Lucino Visconti, R.W. Fassbinder, P. Fleischmann, S. Kubrick, Tim Burton, Dreyer, Billy Wilder usw."

E.: Bei so grundverschiedenen Einflüssen stellt sich die Frage, wie sich Euer Publikum zusammensetzt: wohl nicht nur aus "Schwarzen"?
A.B.: "Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten, da unser Publikum in der Tat sehrheterogen ist. Natürlich zum großen Teil Gothics Industrials, Halbnormale (?), Junge und Alte, ein paar Metals und einige Para-Esotheriker. Unglaublich. KIRLIAN CAMERA scheint die Fremdenlegion zu sein... Im Gegensatz zu vielen anderen Bands lehnen wir die "Schwarzen" aber nicht ab, ganz im Gegenteil."

E: Welche Nebenprojekte unterhälst Du noch außer ANDROMEDA COMPLEX und WHITE LEGION?
A.B.: "ANDROMEDA COMPLEX und WHITE LEGION sind keine richtigen Seitenprojekte. Meine wirklichen Nebenbeschäftigungen sind ORDO ECCLESIAE MORTIS, gegründet 1984, und ZENTRAL FRIEDHOF. Ich habe damit in den Jahren 1985/86 eine Platte aufgenommen. Diese ist bis jetzt noch nicht veröffentlicht, es gab nur Tapes in einer limitierten Auflage von 20 (!!) Stück. Discordia wird dieses Werk veröffentlichen, wahrscheintlich schon bevor diese ENTRY erscheint."

E.: Ihr benutzt häufig die deutsche Sprache, entweder in Titeln ("Todesengel", "Der Tote Liebknecht" etc.) oder sogar deutsche Texte ("Erinnerung"). Habt Ihr ein spezielles Verhältnis zu Deutschland oder zur deutschen Sprache?
A.B.: "Die deutsche Sprache eignet sich hervorragend für Texte, sie klingt so hart. Wir lieben Deutschland sehr, deshalb benutzen wir Eure Sprache. Auch wenn wir sie so gut wie nicht beherrschen... Ich kann ein wenig Deutsch, aber nicht sehr viel. Wir hatten begonnen, Deutsch zu lernen, hatten dann aber zu wenig Zeit. Vielleicht später einmal. Aber auch wenn nicht: Wir lieben Eure Berge und Seen!"

E.: In Deutschland geht es mit KIRLIAN CAMERA in der letzten Zeit kontinuierlich aufwärts. Wie sieht’s in anderen Ländern aus?
A.B.: "In den anderen Ländern geht es langsam vorwärts, aber Deutschland war unser erster "Erfolg", wenn man das Wort gebrauchen möchte. Frankreich und Zentraleuropa sind interessant, sogar Amerika und Asien. Wir sind darüber sehr überrascht, so etwas sind wir nicht gewohnt!"

E.: Du bist das einzige konstante Mitglied von KIRLIAN CAMERA. Ist KIRLIAN CAMERA eine wirkliche Band oder mehr Dein Soloprojekt?
A.B.: "KIRLIAN CAMERA ist Emilias und meine Band, mit der Hilfe von Simon Bakeskazzi und Nancy Appiah. KIRLIAN CAMERA ist sehr offen und demokratisch, weißt Du, aber in letzter Konsequenz ist es der ganz persönliche Besitz von Angelo Bergamini."

E.: Was werdet Ihr als nächstes tun?
A.B.: "Vom 15.04. an werden wir in Europa auf Tour sein, mit sehr vielen Konzerten - es wird wohl ganz schön anstrengend. Dazu gibt es noch einige Dates mit Simon (T.A.C.) und Celestino Pes (ANDROMEDA COMPLEX). HILFE!!! Dann die neuen Studioproduktionen von T.A.C., ANDR.COM., LIMBO etc..."

E.: Was können wir von SOLARIS erwarten?
A.B.: Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll... SOLARIS ist sehr dramatisch, ohne jede Hoffnung. Hoffnung ist eine Art Grausamkeit... SOLARIS ist ein Alptraum. Tiefgehend, nicht so tanzbar. Nichts gegen tanzbare Musik, nicht, daß Du das falsch denkst, aber SOLARIS ist anders. Vielleicht ist KIRLIAN CAMERA eine ganz eigene Person, mit einem ganz eigenem Sti. Es wäre großartig, wenn es so wäre. Wir hoffen es jedenfalls."

E.: Was macht Ihr, wenn Ihr nicht musikalisch tätig seid?
A.B.: "Ich bin Produzent, Komponist, Musiker und manchmal sogar Manager. Ich lebe für die Musik, aber ich interessiere mich auch für andere Dinge, z.B. Kino und Religion. Aber seit etwa 4 Jahren beschäftige ich mich eigentlich nur noch mit Musik. Emilia studiert in Bologna Medizin und arbeitet in Geschäften in Parma. Simon ist arbeitsloser Architekt und Nancy verdient sichihren Lebensunterhalt damit, in dem sie anderen Dreadlocks in die Haare flechtet. Wir leben eigentlich ohne großes Geld vor uns hin,manchmal ist es echt schwierig. Wir kommen alle aus der Arbeiterklasse, also haben unsere Eltern auch kein Geld. Daher können wir also dummerweise keines bekommen."

E.: Zum Schluß die obligatorische Frage: wie würdest Du KIRLIAN CAMERA beschreiben?
A.B.: "KIRLIAN CAMERA zeigt die Qual, den Schmerz. Und das nun schon seit 15 Jahren."

Welch schönes Schlußwort...

  • H.M.

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