Bodystyler #2, 03-04/1998

Kirlian Camera
Die Wüste lebt


Warum die wüste eigentlich wüstet, kann wohl niemand mit endgültiger Sicherheit sagen. Noch läßt sich genau festlegen, ob es richtig derbe komisch ist, wenn ein verlaufenes R aus einer Wüste schmackhafte Würste macht. Feste fixieren läßt sich jedenfalls, daß Kirlian Camera eine bislang unbekannte Wüste entdeckt haben, voll innen drinne. "The Desert Inside" (Triton) ist der Name ihres neuen Minialbums, das weitaus weniger Sand zwischen den Zähnen hat, als der Name vermuten läßt. Bezaubernde Klänge zwischen frösterlicher Steckdosenmusik und flauschige Gesangseinlagen beweisen einmal mehr, daß aus Parma nicht nur guter Schinken kommt.

"Du siehst also, daß wir keine so junge Band sind.", schließt Angelo Bergamini seine Ausführungen über die Geschichte von Kirlian Camera. Klar, was beinahe zwanzig Jahre auf dem Buckel hat, kann so jung nicht sein, trotzdem kursiert noch immer der Irrglaube, die Band gebe es erst seit wenigen Jahren. Grund dafür ist, daß Kirlian Camera hier in Deutschland erst 1993 durch die Wiederveröffentlichung ihres Albums "Todesengel. The Fall Of Life" auf breite Aufmerksamkeit gestoßen sind, gut dreizehn Jahre nach der Bandgründung also. "Kirlian Camera entstand Anfang 1980, nachdem ich sechs Jahre in anderen Projekten aktiv war. Unsere ersten offiziellen Aufnahmen fanden noch im selben Jahr statt, und 1981 erblickte das erste Vinyl das Licht der Welt. So begann dieser Wahnsinn!" Angelo Bergamini ist der einzige Überlebende der ursprünglichen Besetzung und alleiniger Kopf der Band, auch wenn in letzter Zeit andere Musiker mehr an gewicht gewonnen haben. Bevor er Kirlian Camera gründete, spielte er jahrelang in zahlreichen anderen Projekten, u.a. in Hipnosis, mit denen er sogar einige handfeste Hits landen konnte. Die ersten musikalischen Gehversuche wagte der Multiinstrumentalist, der als seine größten Einflüsse Kraftwerk und den ungarischen Komponisten Györgi Ligeti nennt, in seinem Kinderzimmer - wie sollte es auch anders sein. "Ich habe 1971 damit angefangen, meine Musik aufzunehmen. Semiprofessionelle Magnetbandaufnahmen, elektronischer Schund, Ich war damals 13!"
Neben Angelo Bergamini bestehen Kirlian Camera derzeit noch aus Emilia Lo Jacono, Barbara Boffelli und Ivano Bizzi. Für die Italiener ist es nicht ungewöhnlich, daß zwischen den Veröffentlichungen zahlreiche Umbestzungen über die Bühne gehen. Es gibt kaum zwei Kirlian Camera-Alben, auf denen das Line-Up - abgesehen von dem harten Kern - dasselbe ist, doch dieses Schicksal soll dem aktuellen Vierer vorläufig erspart bleiben. "Das Line-Up im Booklet unserer neuen CD ist definitiv offiziell, das kann ich bestätigen. Es ist keine Gruppe vorübergehender Helfer oder flüchtiger Freunde. Die Stimmung in der Band ist momentan sehr gut." Emilia Lo Jacono ist nach Angelo Bergamini das zweitälteste Bandmitglied. Die Sängerin und Musikerin ist seit 1990 mit von der Partie, und hat seitdem nicht nur in der Komposition, sondern auch in der Produktion mehr und mehr Mitspracherecht gewonnen. "Eine Person wie Emilia ist außergewöhnlich wichtig im Studio, besonders wenn wir Filmmusiken machen. Sie ist ein menschlicher Computer und kann sowohl leidenschaftlich als auch analytisch denken. Emilia wird bei uns bleiben, sofern es sich einrichten läßt, aber ihre neue Arbeit als Ärztin in einem Krankenhaus hält sie auf Trab." Zur selben Zeit wie Emilia Lo Jacono kam auch der Elektrowerker Simon Balestrazzi zu Kirlian Camera, von dem man sich aber nach dem 96er Album "Pictures From Eternity" getrennt hat. "Simon Balestrazzi ist nicht länger ein Mitglied von Kirlian Camera. Ich respektiere seine Arbeit aufrichtig, aber seine Vorlieben liegen eher in den USA als in Europa - eine Frage des persönlichen Geschmacks."
Ersetzt wurde er von Ivano Bizzi, der der Band seit den frühen Neunzigern bei der Produktion ihrer Werke zur Seite stand. "Ivano ist ein besonderer Mann, der sehr unterschiedlichen Hintergründen entstammt, hauptsächlich kommerzieller Pop- und Filmmusik. Zudem ist er professioneller Tontechniker. Nachdem Simon uns verlassen hatte, fragte er mich, ob wir einen neuen Musiker brauchen, und ich stimmte sofort zu. Ich schätze ihn sehr als Musiker und hatte selbst schon daran gedacht, daß er Simon vielleicht ersetzen könnte, ging aber davon aus, daß er dafür zu beschäftigt sei. Doch im Gegenteil: er nimmt sich die Zeit, um mit uns zu arbeiten, selbst wenn andere Arbeit dafär ruhen muß." Viertes amtliches Mitglied im Bunde ist Barbara Bofelli, neben Emilia Lo Jacono die zweite Sängerin der Band. Hinzu kommt noch eine lange Liste potentieller Gastmusiker, die von der afrikanischen Sängerin Nancy Appiah bis hin zu Keyboarder Mauro Montacchini reicht. "Ich mag es, viele neue Menschen kennenzulernen und mit ihnen Musik zu machen. Barbara, Ivano und Emy sind aber richtige Bandmitglieder, selbst wenn Emy in Zukunft weniger Zeit für die Band haben wird, und so Barbara mehr Raum gibt."
Stilistisch werden Kirlian Camera fälschlicherweise oft in die finstere "Depressionen aus der Gruft"-Ecke gesteckt. Das mag daran liegen, daß sie in ihren Songs meist ähnliche Themen wie die Antagonisten der "schwarzen Szene" verarbeiten, vornehmlich Schmerz und Einsamkeit, doch ihr Umgang damit ist weitaus stilvoller. Bei Kirlian Camera bekommt man nie den Eindruck, daß das Klischee regiert. Selbst in den sehr pathetischen Stücken überwiegt eine Ehrlichkeit, die den Hörer nie an der Glaubwürdigkeit der Band zweifeln läßt. "Ich schreibe, was ich fühle, doch das ist eine banale Antwort. Es mag seltsam klingen, aber manchmal schreibe ich Musik, in der schmerz keine Rolle spielt. Einige Beispiele dafür werden früher oder später sicher veröffentlicht werden, sofern ich von der Notwendigkeit überzeugt bin. Wie dem auch sein mag, in unserer Musik ist oft ein gewisser Sinn für Humor versteckt. Kein ausgelassener Humor, eher diskret. Wir sehen uns nicht als einer dieser dämlichen "total Tod"-Bands. Es stimmt zwar, daß wir viel über Schmerzen und unschöne persönliche Erfahrungen sprechen, aber das gehört zum Leben! Wir machen keine "Düsterkunst", noch irgendeine andere "Kunst". Ich mag diese Leute nicht, die sich anziehen, als ob Karneval wäre und den ganzen Tag stöhnen, wie deprimiert sie sind. Diese Leute wollen originell sein, aber statt dessen sind sie nur Poser und Muttersöhnchen. Ich weiß, nicht alle "alternativen" Leute wandeln auf diesen unglücklichen Pfaden. Einige der "angemalten Typen" sind sogar sehr intelligent, aber... Es muß auch gelacht werden. Ein Sinn für Humor ist sehr hilfreich. Wenn man Humor hat, kann man den Leuten, die man liebt, viel eher helfen, als wenn man ständig gelangweilt, kindisch oder negativ ist."
Die Musik Kirlian Cameras ist seit den frühen Aufnahmen der Band von einer starken Dualität bestimmt. Auf der einen Seite stehn die kalten, elektronischen Stücke, denen Angelo Bergamini meist selbst seine Stimme leiht, und auf der anderen Seite die meist von schweren Streichern getragenen, elegischen Songs mit Frauengesang. "Emilia singt gern melodische Songs, und sie kann das auch besser als ich. Ich singe Melodien ungefähr genauso gut wie Kuh! Diese beiden Seiten sind gleich wichtig für uns, obwohl ich denke, daß sich Kirlian Camera seit den Anfangstagen stark am Frauengesang orientieren. nach dem endlosen Kommen und Gehen von neuen Sängerinnen mußte ich meine eigene Stimme einsetzen. Seitdem singe auch ich, meistens dann, wenn Emilia oder Barbara denken, ein Song paßt nicht zu ihnen." Bei dem Titelstück des neuen Minialbums von Kirlian Camera treffen beide Welten aufeinander. "The Desert Inside" ist ein Duett, bei dem sowohl der verführerische Gesang von Emilia Lo Jacono als auch die sonore Stimme von Angelo Bewrgamini zum Einsatz kommen. Sein Organ klingt hier sogar noch tiefer als auf vorherigen Stücken der Band. Zuviel geraucht, Herr Bergamini? "Hey Mann, ich werde dir nie verraten, welch Zigarettenmarke ich rauche, um diese Stimme zu bekommen! Jedenfalls benutze ich abges ehen von Red Rothmans eine Kombination aus Wellenformen, Pitch-Shiftern und Filtern. Ich mag meine neue "künstliche" Stimme und werde sie weiterhin benutzen, so als wäre sie meine natürliche Stimme. Daß einzige Problem ist nur, daß es schwerer ist, mit diesen Effekten zu singen, und wie ich schon sagte, zwischen Pavarotti und mir liegen Welten. Ich bin jetzt also dazu verdonnert, die Töne besser zu treffen als früher." Auch ansonsten ist der Hörer auf "The Desert Inside" nicht vor Überraschungen sicher. Neben dem sehr eingängigen Titelstück befinden sich ambiente Geräuschlandschaften und mit "Motionless" sogar ein Dub-Experiment auf dem Album. "ich freue mich, daß jemand die Versuche, unsere Musik weiterzuentwickeln, zu schätzen weiß. Ich denke, das ist ein natürliches Bedürfnis für einen Komponisten. Es ist auf Dauer einfach nicht befriedigend, ständig Kone des gleichen, alten Songs zu schreiben. Ich mache seit den frühen Siebzigern elektronische Musik, daher halte ich meine Ohren für alle musikalischen Möglichkeiten auf. Ich filtere all diese Einflüsse und nehme mir, was ich möchte, und was nötig ist, um Kirlian Camera vor einem gefährlichen Schlummer zu bewahren. Ah ja, "Motionless" mag ein wenig "dubby" oder "jazzy" scheinen, warum nicht? Der Song hat aber auch diese dunkle, etwas nüchterne Stimmung, weil unser Herz in diesen Noten schlägt. Wir wollen nicht in einer musikalischen Sackgasse enden. Die heutige Indieszene ist extrem konservativ und erstickt so jeden Versuch zu atmen, jeden Versuch ehrliche Musik zu machen. Das ist nicht nach meinem Geschmack, denn ich möchte wenigstens in der Musik frei sein". Eine Einstellung, die sich auch in Angelo Bergaminis [...]

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